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Genuss statt Reue

Ernährungsberater hämmern es uns ein. Wir essen zu viel, vor allem Zucker, Fleisch, Kohlehydrate, Zusatzstoffe. Das hat eine Verzichtswelle ausgelöst, getrieben von vermeintlich guten Ratschlägen und schlechtem Gewissen.

Dass nicht nur mit dem Mund und den Augen, sondern auch mit dem Kopf gegessen wird, ist zwar

nicht neu, aber in diesem Ausmaß noch nie erlebt worden.

Die „E“s in der Inhaltsdeklaration werden wie der Beipackzettel eines Medikamentes studiert, sie machen ebenso Angst wie die dort aufgelisteten möglichen Nebenwirkungen. Wir glauben oder glauben zu wissen, dass fast alles, was dort aufgeführt wird, uns krank macht. Bluthochdruck, Diabetes, Schlaganfall und Herzinfarkt scheinen unvermeidlich, wenn wir so weiter essen wie bisher.

Es ist schwer geworden, zwischen Wahrheit, Halbwahrheiten und Unwahrheiten zu unterscheiden. Schon deshalb, weil sich die Empfehlungen in immer kürzer werdendem Takt ablösen, oft widersprechen. Zu viel fettes Essen und damit Cholesterinaufnahme war und ist in vielen Publikationen ein sicherer Infarktbringer, ein Hühnerei folgt gleich auf in der Todesliste. Kohlehydrate, Brot und Zucker, finden sich inzwischen auf der „Roten Liste“ der No-goes.

Low-Carb scheint der rettende Ausweg zu sein. No-Fett, No-Zucker, No-… .

Inzwischen gibt es Zweifel, nicht an den Lebensmitteln, sondern an den News der Berater. Ein hoher Cholesterinspiegel ist – nach neuerer Erkenntnis – nicht wesentlich durch Fett und Hühnerei ausgelöst und zu viel Salz scheint nur bei einigen Menschen den Blutdruck zu erhöhen. „Scheint“, muss man vorsichtigerweise sagen, denn auch diese Erkenntnis hat vermutlich eine kurze Halbwertzeit.

Was also dürfen wir mit gutem Gewissen und im Hinblick auf ein gesundes, langes Leben noch essen? Zurück zur Steinzeitdiät? Vegetarisch, vegan? Den Rest des Erlaubten natürlich Fair-trade.

 

Nach der Fresswelle die Stresswelle

 

Was ist noch erlaubt, ohne uns zu kasteien und ohne nur noch „ohne“ zu speisen?

Zuerst sollten wir ehrlich zu uns selbst sein, ehrlich im Denken und vor allem im Tun. Gefragt, ob sie für nahproduzierte, ökologisch erzeugte Lebensmittel mehr Geld ausgeben würden, antwortet die Mehrheit der Befragten mit „Ja“, auch die, die beim Interview eine ALDI oder LIDL Tüte in der Hand halten. Das Sein schafft das Bewusstsein, wusste schon Karl Marx, weniger auf das Essen als auf die ökonomischen Verhältnisse bezogen. Und die bestimmen auch heute noch Denken und Tun.

Hätte jemand in der Nachkriegszeit eine Diskussion um die Reduktion von Fett, Eiweiß und Kohlehydraten angestoßen, wäre er nicht belächelt, sondern verjagt worden. Unsere Eltern und Großeltern sind mit nach heutigem Wissen höchst ungesundem Essen groß geworden. Das Ergebnis sind wir, die wir meinen, dass eine solche Ernährung nur Schädliches bewirken kann.

Zyniker könnten jetzt sagen: Diese Einschätzung ist richtig.

So weit sollte man nicht gehen. Aber die überbordende Empfindlichkeit sollte einmal nicht nur ernährungswissenschaftlich, sondern auch psychologisch unter die Lupe genommen werden. Das, was man nicht hat und nicht oder nur schwer bekommen kann, scheint erstrebenswert, ob Bananen in der ehemaligen DDR oder Hirse in der Sahelzone. Wir haben Zugang zu so gut wie allem, was in der Welt an Lebensmitteln produziert wird. Es gibt für die meisten keinen Mangel und keine Notwendigkeit zum Verzicht. Das Überangebot oder besser dessen Nutzung schafft Zweifel bis hin zu Gewissensbissen, ob das denn alles mit rechten und gerechten Dingen zugeht. Und - wir machen uns Sorgen um uns, unsere Gesundheit. Wir wollen nicht nur leben, sondern möglichst viel er-leben, so intensiv und so lange wie möglich. 80 Jahre Lebenserwartung sind uns nicht genug, wir bewundern Hundertjährige, die aus dem Fenster steigen oder im Fernsehen über die Weltpolitik diskutieren. Das macht nicht nur Hoffnung, sondern schürt auch Ängste. Die Vorstellung, das über die statistische Lebenserwartung hinausgehende Dasein siechend, behindert oder dement zu er-leben, könnte, ja kann depressiv stimmen. Dem wollen viele mit allen Mitteln entgehen. Frisch und gesund, wie die Best-Ager in der Werbung, soll dem letztlich unvermeidlichen Ende entgegengelebt werden.

 

Schnell noch mal die Welt retten

 

Viele überhöhen die Diskussion mit dem Wissen, zuweilen auch dem Glauben um die

Verantwortung für die Menschheit als Ganzes. Die Vorstellung, mit unserem Konsumverhalten den Armen in der „Dritten Welt“, die Nahrung wegzunehmen, schafft ein schlechtes Gewissen. Sie achten auf „Fair Trade“ sowie Kleidung und Lebensmittel, die vermeintlich garantiert nicht das Produkt von Ausbeutung und Kinderarbeit sind. Und natürlich muss der tropische Regenwald geschont werden, um den künftigen Generationen nicht den Sauerstoff zum Atmen zu nehmen.

Da beginnen auch schon die Widersprüche. Was ist, wenn diese neu gewonnenen Anbauflächen zur Massenproduktion von Soja genutzt werden, dem Lieblingsrohstoff von Vegetariern und Veganern. Alle Bedenken über schlechte Arbeitsbedingungen, lange Transportwege und Genmanipulationen werden vom Tisch gewischt, wenn die eigene Gesundheit damit gerettet werden könnte. Die „grüne Liste“ lässt sich verlängern mit grünem Tee, Granatapfel, Grapefruit, Papayas oder Maracuya und einer Anzahl von Beeren mit kaum aussprechbaren Namen.

Also: „Zurück zur Natur“, wie es Jean-Jacques Rousseau formuliert haben soll. Tomaten aus dem eigenen Garten, Kartoffeln vom Nachbarbauern und die Milch nur von Kühen, deren Namen bekannt sind.

Die Frage: „Wie sollen 7,5 Milliarden Menschen mit diesem Diktum versorgt werden?“

„Einer muss doch einmal damit anfangen“, ist die häufige Antwort. Diese ist legitim, doch nicht zielführend. Sie ist, genauer gesagt, elitär. Denn sie schließt die Mehrheit nicht nur der Weltbevölkerung, sondern auch die im eigenen Land aus. Ziel sollte es nicht sein, immer neue Nischen zu schaffen, die für die meisten, Erzeuger wie Konsumenten, nicht haltbar sind, sondern die Massenhersteller zu motivieren, zur Not auch zu zwingen, Massenlebensmittel sozial verträglich, ökonomisch und ökologisch zu liefern.

 

Nur noch mit „ohne“

 

Aber was ist nun mit der „ohne“ Diskussion. Ohne Laktose, ohne Gluten, ohne

Konservierungsstoffe, ohne „E“s?

Wie hört sich das an, wenn man statt von Laktose von Milchzucker und statt Gluten von Mehl-Klebereiweiß spricht. Genau darum handelt es sich und um die Unverträglichkeit, die weniger als 1 oder 2 Prozent der Menschen betrifft, aber inzwischen Millionen von Konsumenten zu Verzichtern werden lässt. Oder was ist mit E 100 (Kurkumin), ein Naturfarbstoff. Während der für viele Zusatzstoffverweigerer auf der „Roten Liste“ steht, wird er von Ärzten als Nahrungsergänzung für eine bessere Durchblutung des Gehirns angeboten. Oder E140 (Chlorophyll). Klingt nach Chemie, ist aber der grüne Naturfarbstoff in den Blättern. Die Liste der Lebensmittelchemie lässt sich fortsetzen mit E153 (Holzkohle) und E160d (Lycopin), der roten „Farbe“ der Tomate. Unsere wegen ihres natürlichen Umgangs mit Lebensmitteln gelobten Vorfahren haben bereits

Zusatzstoffe genutzt, die in Maßen niemand geschadet haben, etwa Nitritpökelsalz oder Schwefel im Wein.

Das spricht nicht alle E-Zusatzstoffe frei. Viele sind zwar vermutlich ohne gesundheitliche Nebenwirkungen, aber oftmals überflüssig wie Propionsäure, um Brot länger haltbar zu machen, oder vermeintlich nützliche Vitaminzusätze. Wer „normal“, d.h. vielfältig isst, hat in unseren Breiten keinen Vitaminmangel, braucht keine Nahrungsergänzungsmittel. Anders sieht es aus, wer rigide auf Fleisch oder ganz und gar auf tierische Produkte verzichtet, auch Milch, Ei und Fisch. Hier kann es zu Mangelerscheinungen kommen. Die Entwicklungsgeschichte des Menschen hat in

Maßen Fleisch auf dem Speiseplan gehabt. Das Fleisch produzierende Tier hat die von Veganern und Vegetariern bevorzugte Pflanzen gefressen, umgewandelt und für uns leichter verdaulich aufgeschlossen. Letztlich ernähren sich alle, wenn auch über die Zwischenstufe Tier, von Pflanzen.

 

Nicht Verzicht, sondern genussvolle Vielfalt sollte die Wahl unserer Lebensmittel und unserer Speisen bestimmen.

„Angst essen Seele auf“, ließ Rainer-Werner Fassbinder in seinem Film den Protagonisten sagen. Wer seine Speisen mit schlechtem Gewissen, gar Furcht vor … herunterwürgt, wird an anderer Stelle, wenn nicht bei der Ernährung, Probleme bekommen und diese im ungünstigsten Fall mit Chemie bekämpfen müssen.

Vielfalt statt Einfalt, Genuss statt Reue hilft dem eigenen Körper und der "Körperschaft Mensch", sich besser zur ernähren.

(c) Dieter Wilhelmy

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Kommentare: 1
  • #1

    Christine (Freitag, 10 Januar 2020 11:59)

    Wie wahr! Statt sich ständig im Selbstkasteien zu suhlen, sollte man wirklich genießen- aber in Maßen- sonst genießt man nicht das Besondere. Für mich heißt gutes Essen zu genießen, frisches Essen ohne die Es oder andere chemischen Zusatzstoffe und aus der Region. Und das ist dann doch auch gut für die Umwelt und für mich.