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Höhenflug

Ein Hessenkrimi von

 

Dieter Wilhelmy

 

Der Plan, seinem Eheleben nach fünfundzwanzig Jahren ein Ende zu bereiten, gedieh langsam, schleichend und fast nicht wahrnehmbar, auch für ihn nicht. Jürgen  hatte hohe moralische Ansprüche an seine Frau, was  deren eheliche Pflichten betraf. Gegenüber sich selbst war er großzügiger. Die vermeintlichen Abende im Büro nahmen an Häufigkeit und Länge zu.

 

Helene schien von all dem unberührt zu sein. Sie hatte ihren eigenen Tagesrhythmus, versorgte  ihren Mann mit dem Nötigsten und pflegte ansonsten sich und ihre Beziehungen zu ihrem Yogalehrer. Die Zeitungsanzeige mit der Schlagzeile „Wohltuende Wirkungen auf Körper, Geist und Seele“ konnte sie nach den ersten Sitzungen mit dem jungen Trainer nur bestätigen, auch der Ergänzung in der Anzeige „Asanas – das perfekte Schmiersystem für den Körper“ widersprach sie nicht. Zu Beginn hatte sie noch Schwierigkeiten mit den Yoga-Stellungen. Weder die „Hundehaltung“ noch die „Heuschrecke“ weckten ihre Begeisterung. Das wurde besser mit der „Flankendehnung“ und dem „Krokodil“, deren Drehhaltung aus der Rückenlage ihr Trainer tatkräftig unterstützte. So waren ihre Vormittage mit diversen Übungen ausgefüllt. Sie vermied es, ihrem Mann allzu detailliert über die anregende Wirkung der Yogasitzungen zu berichten.

 

Was die Reduzierung der Kommunikation anging, waren sich Helene und Jochen einig.

Jochen hatte schon seit Anbeginn den hessischen Sprachmustern seiner Frau distanziert gegenüber gestanden. Wenn sie ihre immer seltener werdenden Intimitäten mit dem Zitat abschloss, „Wann mer ebbes Unangenehmes vor sich hat, afach umdrehe, dann hat mers hinner sisch“, motivierte  ihn das nicht für weitere körperlichen Kontakte. Wenn sie dann noch resignierend meinte „Lebbe gehd weider“, kamen ihm ganz andere Gedanken.

 

Neben allem sonstigen Unheil näherte sich ihr Hochzeitstag. In Jochens Augen war ein viertel Jahrhundert eine für seine Frau mehr als ausreichend lange Periode, ihn begleitet zu haben.

 

Kriesch ich was scheenes zum Hochzeitsdach?“ fragte sie eines Tages unverholen. 

Es dauerte einige Zeit, bis er ein passendes Geschenk glaubte gefunden zu haben.

Der Anblick der Propangasflaschen auf seiner Arbeitsstelle weckte in Jochen Hoffnung auf einen geglückten und endgültigen Abschluss Helenes fünf Jahrzehnte dauerndem Erdendasein.

 

Um von seinem eigentlichen Geschenk abzulenken, begleitete Jochen seine Frau durch die Gießener Seltersgasse. Er versuchte ihren Blick von den Boutiquen mit den fantasievollen Namen und ebensolchen Preisen abzulenken. Er dachte daran, dass jede Investition sie nur kurzzeitig beglücken, ihn aber auf Dauer belasten würde. 

Ei, gugge mal!“ Dieser Satz leitete erwartungsgemäß einen längeren und damit kostenintensiven Aufenthalt in einem der Läden ein.

Karstadt hat gerade Schlussverkauf!“, versuchte er abzulenken, erreichte aber genau die gegenteilige Reaktion.

Mit zunehmender Besuchsdauer wuchs seine Sorge um die spätere Entsorgung der Stoff- und Lederansammlung.

 

Auf seiner Arbeitsstelle wartete der nächste Auftrag.

Vier Propangasflaschen wurden, und das nicht zum ersten Mal, zur Anlieferung für einen ortsnahen Ballonfahrer vorbereitet. Das ruhige Sommerwetter hatte den Umsatz mit diesem Kunden in schwindelnde Höhen getrieben. Fast täglich stieg dessen Heißluftballon mit zahlenden Gästen in den Gießener Himmel. Nur der Wind bestimmte, wohin die Reise ging, und natürlich der Gasvorrat an Bord. 

 

Ein letztes Mal wollte Jochen großzügig sein und Helene neben den bereits sein Konto belastenden Stoff- und Lederwaren ein einmaliges und finales Erlebnis schenken. Sie sollte die Wirkungsstätte ihrer unglücklichen Ehe aus erhabener Perspektive erleben, ein letztes Mal einen Blick auf das Haus ihres Yogagurus werfen können, auf die Stätten ihrer anderen Vergnügungen und, nichtsahnend, auch auf die ihres Mannes, der von sicherem Boden aus diese Abschiedstour begleiten würde.

 

In langen Nächten, in denen er neben seiner ihm abgewandten Frau wach lag, war der Plan gewachsen, der ihn von seiner immer ruhig atmenden Bettnachbarin befreien sollte. Je mehr ihre Yoga Trainingsbesuche sie von jeder Anspannung zu befreien schienen, desto angespannter konstruierte Jochen sein Vorhaben. Ein Befreiungsschlag besonderer Art sollte es werden, spektakulär und für das Opfer mit einem unvermeidbaren, aber für den Täter genussvoll in die Länge gezogenen Finale furioso.

 

Er packte den Gutschein sorgsam in goldenes Packpapier, verzierte ihn mit einem anscheinend liebevoll gefalteten Schleifchen und einer Karte mit den Zeilen „Erlebe den Himmel nach 25 Jahren….“.  Er zögerte zu schreiben, was er dachte und schrieb stattdessen „...Ehedasein“.

 

Als Helene den Umschlag am besagten Jahrestag öffnete, schüttelte sie den Kopf. 

Net mit mir!“, hörte er sie sagen.

Jochen erstarrte. Sollte sein Plan schon in der ersten Sekunde der Ausführung zunichte gemacht sein.

Nee, net mit dir! Endlisch emal frei sein und von obbe uf disch herabgugge därfe“, sagte sie.

Erleichtert nahm er den Hörfehler „mir-dir“ zur Kenntnis.

 

In Erwartung der kommenden Ereignisse war Jochen in bester Stimmung, die sich auch auf seine Frau übertrug, jedoch aus sehr unterschiedlicher Motivation.

 

Am Morgen machte er sich an die Präparation der Gasflaschen. Nie hatte er mit solchem Eifer seine Arbeit verrichtet. Anstatt die Flaschen mit  Flüssiggas zu füllen, ließ er sie zu einem Drittel mit Wasser volllaufen und pumpte dann das Gas hinzu. Das leichtere flüssige Propan würde sich wie geplant über das Wasser legen. Der Ballonpilot würde erst sehr spät merken, dass seine Reichweite gerade mal zwei Drittel der geplanten betragen würde. Und die Erkenntnis käme sehr plötzlich. Dann nämlich, wenn der Vorrat ohne Vorwarnung zu Ende wäre, die Flamme im Brenner erlöschen würde. Vielleicht würde ihn die Druckanzeige verwirren. Aber ohne Zweifel hätte das Gewicht der Flaschen eine volle Gasladung versprochen.

Jochen machte sich keine Gedanken über die Kollateralschäden, die beim unerwarteten und unsanften Niedergang des schlaffen Ballons zu erwarten waren. „Der Zweck heiligt die Mittel“, dachte er, wenn er überhaupt noch in der Lage war einen emphatischen Gedanken zu haben. 

 

Mit jedem Tag, der dem Ereignis näher kam, stieg Jochens Euphorie. Und er beobachtete mit Verwunderung und klammheimlicher Genugtuung, wie auch seine Frau der Himmelfahrt entgegenfieberte. Sie allerdings mit der Erwartung, sich endlich über die Niederungen der Stadt und die ihrer Ehe erheben zu können.

 

Dass die Ballonfahrt nun auch noch mit ihrem Verlobungstag  zusammenfiel, war weniger dem Ereignis als dem Wetter geschuldet. Ein wolkenloser Himmel wölbte sich über der Stadt, keine Wolke würde den ruhigen Flug über Gießens Innenstadt stören. Schade eigentlich, dachte Jochen. Ein wenig Seekrankheit würde er seiner Frau quasi als Hors d‘ouevre des anschließenden Hauptganges gönnen. 

 

Auf einem Feld südlich der Stadt begannen die Vorbereitungen für Aufstieg (und Fall) der im wahrsten Sinnes des Wortes einmaligen Ballonfahrt. Jochen half nur zu gerne beim Aufrüsten des Luftfahrzeuges. Sein Fahrrad, mit dem er die geplante aber letztlich unplanbare Fahrt begleiten würde, hatte er zur Seite gestellt.

Erst mit einem Gebläse, dann mit der heißen Flamme des Gasbrenners richtete sich die seidene Hülle zu erhabener Größe auf. Noch verhinderten Leinen das vorzeitige Abheben des Fluggerätes. Leichtfüßig erklomm Helene den Korb, nur zu gerne unterstützt durch den Ballonpiloten, dem sie wie zufällig über den Arm strich. Jochen gönnte ihr diese letztliche eheliche Pflichtverletzung. 

Dann erfüllte ihn ein erhabenes Gefühl. Erhebend war es für Helene, die ihrem Ehe- und Erdendasein entschwebte. 

 

Der Wind machte das Erwartete. Er führte den Ballon mit zunehmender Höhe in Richtung Innenstadt. Helene hatte keinen Blick mehr für den erwartungsvoll in die Höhe blickenden Noch-Ehemann, der sein Fahrrad bestieg und versuchte dem Himmelsgefährt auf irdischen Straßen zu folgen.

Der Ballon gewann zunehmend an Höhe, was Jochen die Verfolgung des Gefährtes leicht machte.

Das Gerät nahm jedoch keine Rücksicht auf irdische Regeln wie Einbahnstraßen, Fußgängerzonen und unwegsame Areale wie den Botanischen Garten. Zu allem Übel frischte der Wind auf und verschaffte dem Ballon einen für den Verfolger unerwarteten Schub. Jochen begann sich zu wundern, dass das bunte Ei immer noch die Höhe hielt. 

Seinen Berechnungen nach müsste es … . 

 

Trotz des Verkehrslärms in der Marburger Straße horchte er auf. Das regelmäßige Wummern des Gasbrenners war erstorben. Ein Lächeln überzog Jochens Gesicht. Er versuchte sich vorzustellen, was sich gerade jetzt im Korb über seinem Kopf abspielte. Die noch nichts ahnende Helene, die Verwunderung des Ballonpiloten,  das hektische Drehen an den Gasflaschenventilen, die Ungläubigkeit über die Widersprüche der Druckanzeige und schließlich die Erkenntnis, dass diese Ballonfahrt Zeitungsschlagzeilen machen würde. 

 

Nein, über letzteres dachte niemand im sinkenden Ballon nach. Der Blick nach unten verhieß nichts Gutes. Die Autohäuser in der Marburger waren noch lange nicht überwunden. 

Noch vor dem langsam die pralle Form verlierenden Ballon hatte Jochen eine kleine Fläche kurz vor der Abzweigung nach Buseck erreicht. Jetzt überfielen ihn doch leichte Zweifel, ob die Begleitschäden des von ihm geplanten Endes der Ballonreise eine gewisse Verhältnismäßigkeit übersteigen könnten. Der Gießener Ring mit dichtem Verkehr war nicht allzu weit entfernt.

 

Doch alle Überlegungen wurden überlagert durch die Schreie seiner Frau, die, ihrem jetzt offensichtlichen Ende bewusst werdend, aus dem Korb bis zu ihm hinunter schallten.

Das war es, was er hören wollte.  Beglückt stellte er in aller Ruhe sein Fahrrad an einen Baum und blickte senkrecht nach oben auf das nahe Ende seiner Ehe und seiner Leiden.

 Um der Ballonfahrt ein nicht geplantes, gewaltsames Ende zu ersparen, sah sich der Pilot gezwungen Ballast loswerden. Er traf eine situationsgerechte, jedoch für die Eheprobleme seines Fluggastes und deren zahlendem Gatten finale Entscheidung.

 

Die herabfallende Gasflasche traf Jochen unvermittelt, aber mit absoluter Präzision. Er machte seinen Beziehungsqualen ein schnelles, fast schmerzfreies Ende.

 

Helene nahm das Ende ihres Gatten und damit ihrer Ehe nur mit einem Seitenblick wahr. Vielmehr sorgte sie sich um ihr eigenes, das sich in Form des zu ihr hochwachsenden Erdbodens näherte. Kurz bevor sie aufschlagen würden, warf der Pilot die zweite Gasflasche über Bord. Dem Gewicht nach versprach sie die größte Entlastung. Dann schlug der Korb auf, unsanft, aber den Umständen entsprechend glimpflich und für die Insassen verletzungsfrei. 

Helene rollte aus dem Korb, der Ballonpilot stürzte über sie. Für einen kurzen Augenblick genoss sie diese unerwartete Intimität.

Der Ballon hatte jede Prallheit verloren, schlackerte müde zur Erde und lag schließlich erschlafft auf der  Parkfläche eines Autohändlers. 

 

Noch während sich Pilot und Fluggast aufrichteten, waren die Institutionen am Platz. Polizei und Rettungssanitäter taten das Nötige. Vor allem entsorgten sie den durch den Flascheneinschlag bis zur Unkenntlichkeit entstellten Jochen.

 

Bevor auch Ballon, Pilot und Helene den Schauplatz verließen, musste ein traditionelles Ritual folgen, die Ballonfahrertaufe. Alles andere hätte, dem Aberglauben der Luftschiffer geschuldet, weiteres Unheil verheisen. Eine Locke des Täuflings musste mit Feuer entzündet und dann mit einem Spritzer aus der Champagnerflasche gelöscht werden.

 

Wenn es auch auf Frankreichs Ludwig XVI. zurückgeht, wurde die Zeremonie im Laufe der Jahrhunderte nur wenig verändert, sollte aber zum ersten Mal in der dreihundertjährigen Geschichte einen unerwarteten Verlauf nehmen.

Gut vorbereitet durch ihre Yoga-Übungen kniete sich Helene fügsam vor den Ballonpiloten, um dessen Segen entgegenzunehmen.

Helene, die die Höhe und die Tiefe bezwang“ - dabei musste sie an ihre Ehe und deren Ende denken - „wird hiermit in den Adelsstand der Ballonfahrer erhoben und mit Feuer getauft.“ 

Der Sekt zum Löschen stand schon bereit, sollte aber nicht mehr zum Einsatz kommen. Denn abgelenkt durch die erhebende oder erniedrigende Zeremonie (je nach Sichtweise) überhörten beide das aus einer der abgeworfenen Flaschen austretende Gas. Es waren nur mindere Reste, doch sie reichten, um beim Entzünden des Feuerzeuges nicht nur traditionsgemäß die blonde Locke Helenes anzusengen, sondern die gesamte Szenerie mitsamt der Beteiligten in einen Feuerball zu verwandeln. 

 

Der Begriff Heißluftballon hatte mit diesem Ereignis eine völlig neue, wenn auch begrifflich stimmige Bedeutung bekommen.

 

Natürlich ist diese Geschichte frei erfunden, würde so nie stattfinden. Kein Ehemann wäre in der Lage, sich eine solche Form der Ehebeschließung auszudenken. Und selbstverständlich wäre kein Ballonpilot fähig, sich so täuschen zu lassen, weder von einem hasserfüllten Ehemann, noch vom Füllstand seiner Gasflaschen..oder doch?

 


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